Das mit Jugendbildnis betitelte Porträt zeigt Ulrike Meinhof als junge, politisch aktive Journalistin, bevor sie zu einem der Hauptakteure der linksextremistischen, terroristischen Vereinigung Rote-Armee-Fraktion (RAF) wurde.
Wie alle Bilder der Serie 18. Oktober 1977 bezieht sich auch Jugendbildnis auf eine fotografische Vorlage, die von Richter in Hamburger Pressearchiven aus dem stern ausgewählt, kopiert und in das Medium Malerei übertragen wurde. Die Originalfotografie (die 2015 auch als Vorlage für eine neue Edition [Editions-WVZ: 167] diente) wurde am 10. Oktober 1966 von der Fotografin Inge-Maria Peters für eine Kolumne der Zeitschrift konkret aufgenommen, für die Meinhof nicht nur Artikel verfasste, sondern die sie auch zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Klaus Rainer Röhl leitete[1]. Nur vier Jahre später, am 14. Mai 1970, war Meinhof an der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders aus der Haft beteiligt – diese Aktion gilt gemeinhin als Geburtsstunde der RAF[2].
Bei der Adaption dieser Fotografie in die Malerei hat der Künstler einige Änderungen vorgenommen: Ulrike Meinhof mutet deutlich jünger an, ihr Blick wirkt weniger entschlossen und der Zug um den Mund weniger energisch als auf der Vorlage. Durch die Verwischung der noch nassen Farbe steigert Richter den jugendlich-zarten Eindruck des Porträts. Meinhofs Blick verströmt eine fast melancholische Nachdenklichkeit (Richter selbst bezeichnete das Bild 1988 als „bürgerlich sentimental“[3]). Auch der Bildtitel unterstreicht Richters Absicht, Meinhof als junge Frau darzustellen, die unerfahren und arglos, fast schon kindlich, wirkt[4]. Der Bildaufbau und die Lichtsetzung des Portraits vor dunklem Hintergrund dagegen erinnern an Schauspielerporträts oder altmeisterliche Gemälde und schaffen eine Konzentration auf die Persönlichkeit Meinhofs[5].
Das Jugendbildnis kontrastiert mit der übrigen Bildwelt der Serie, die den Tod der Führungscharaktere der RAF thematisiert[6]. Es ist vergleichsweise klein und kreiert durch Meinhofs direkten Blick eine fast schon intime Beziehung zum Betrachter[7], die noch dadurch verstärkt wird, dass wahrscheinlich ein Großteil der Betrachter ein ähnliches Porträtfoto von sich besitzen dürften. Das Bild der Terroristin, das maßgeblich von den Medien geschaffen und beeinflusst wurde, wird dadurch relativiert und durch die auffallende Harmlosigkeit des Porträts konterkariert[8]. Mit dem Jugendbildnis evoziert Richter zudem Gedanken an die Zeit zwischen dem Entstehungszeitpunkt der fotografischen Vorlage und den Gemälden, die Ulrike Meinhof nach ihrem Selbstmord als Tote [WVZ: 667/1-3] zeigen und stellt den Bildern der Toten eine „reine“ Vision der Vergangenheit gegenüber[9].
Ulrike Meinhof erscheint in diesem Bild daher als Individuum und nicht als ein von den Medien verzerrter Charakter, der wahlweise dämonisiert oder mystifiziert, immer aber entmenschlicht, wurde. Ihr Porträt lädt zur Identifizierung ein[10] und verdeutlicht, zu welchen Taten jeder Mensch unter Umständen in der Lage wäre[11].
[1] Die Angaben zum Originalfoto stammen von der Fotografin Inge-Maria Peters, die anlässlich der Veröffentlichung der Edition Ulrike Meinhof [ECR: 167] die Informationen zu den Umständen der Aufnahme veröffentlichte.
[2] Robert Storr (Hg.): Gerhard Richter. October 18, 1977. The Museum of Modern Art, New York, 2000. S. 106.
[3] Notizen November 1988 (für die Pressekonferenz Februar 1989 – Museum Haus Esters, Krefeld). In: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2008. S. 206.
[4] Storr 2000. S. 106.
[5] Ortrud Westheider: Eine Idee, die bis zum Tod geht. Der Zyklus “18. Oktober 1977”. In: Uwe M. Schneede (Hg.): Gerhard Richter. Bilder einer Epoche. [Ausst.-Kat.] Bucerius Kunst-Forum, München, 2011. S. 158.
[6] Zwar stellen nur etwa die Hälfte der Bilder tatsächlich die toten Terroristen dar, ihr Schicksal und die tödlichen Konsequenzen ihres Tuns bestimmen den ganzen Zyklus aber maßgeblich.
[7] Storr 2000, S. 106.
[8] Hubertus Butin: Zu Richters Oktober-Bildern. Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst Frankfurt (Main). Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 1991. S. 47 f.
[9] Storr 2000, S. 106.
[10] Martin Henatsch: Gerhard Richter – 18. Oktober 1977. Das verwischte Bild der Geschichte. kunststück. Fischer, Frankfurt (Main), 1998. S. 74 f.
[11] Butin 1991, S. 48.
Notiz erstellt von der Redaktion
The Museum of Modern Art (MoMA), New York, USA
Dieses Kunstwerk basiert auf einem Bild aus dem Atlas:
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