Biographie

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Die 1980er-Jahre: Internationale Anerkennung

Anfang der 1980er-Jahre ist die Malerei in bestimmten Kreisen der Kunstwelt wieder en vogue, eine zentrale Rolle spielt dabei der Expressionismus (in Deutschland wurden sie unter dem Schlagwort „Junge Wilde“ oder „Neue Wilde“ bekannt). In den USA zählen Philip Guston und Julian Schnabel zu den führenden Köpfen, in Deutschland sind Georg Baselitz und Anselm Kiefer die prominentesten Vertreter. 1981 versammelt eine Ausstellung in der Londoner Royal Academy etliche dieser Künstler unter dem Titel A New Spirit in Painting, zu denen auch Richter gehört. Storr merkt an: „Richters Beschäftigung mit expressionistischer Malerei geht dieser Bewegung mehrere Jahre voraus, aber er ist sich der neuen Strömung durchaus bewusst, und als sie Wellen schlägt, wird er in mehreren Ausstellungen mit ihren Exponenten in einen Topf geworfen.“48 Die Ausstellung trägt zweifellos dazu bei, Richter international als Schlüsselfigur der zeitgenössischen Malerei zu bestätigen. Mit zwei parallelen Ausstellungen, einmal der Art Allemagne Aujourd'hui am „Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris“ und einer Einzelausstellung in München, beginnt das Jahrzehnt vielversprechend. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass Richters Laufbahn einige entscheidende Schritte nach vorn macht.

 

Als die Beziehung zu Ema in den späten 70er-Jahren zu Ende geht, kommt Richter der Künstlerin Isa Genzken langsam näher. Er lernt sie bereits in den frühen 1970ern als Studentin kennen und trifft die junge, bereits etablierte Künstlerin einige Jahre später wieder. Anfang der 1980er-Jahre leben Genzken und Richter gemeinsam in Düsseldorf, wo sie 1982 schließlich heiraten. Im darauffolgenden Jahr bietet ihnen Richters Galerist Rudolf Zwirner ein großes Studio in Köln in einer alten Fabrik in der Bismarckstraße an. Richter widmet sich mit Energie und Leidenschaft der Erforschung der Abstraktion, welche seine Praxis bis 1987 dominieren wird. Während er auf diesem Gebiet schöpferisch im Fluss ist, stellt sich für ihn die Frage, wie es mit seinem figurativen Werk weitergehen soll.

 

Die Antwort findet sich im folgenden Jahr in Gestalt einer Kerze, die als zentrales Sujet einer ganz eigenen Werkreihe fungiert, welche zwischen 1982 und 1983 entsteht. Obwohl diese Arbeiten, als sie zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sind, zunächst ein überraschend geringes Echo finden, zählen sie inzwischen zu seinen bekanntesten Werken. Die Kerzen erscheinen vor reduzierten Hintergründen wie kahlen Wänden, Tischplatten oder Türrahmen. Durch Schattierung und Unschärfe offerieren die Kerzenbilder einen ganz neuen Ansatz für die Fotobilder und helfen Richter außerdem dabei, sich von den Neo-Expressionisten abzugrenzen.

 

Auch Landschaften sind ein wiederkehrendes Thema in Richters Fotobildern der 1980er-Jahre. Seit den Korsika-Bildern [WVZ: 199-201, 211, 212], die Ende der 1960er-Jahre entstehen, kehrt Richter immer wieder zum Sujet Landschaft zurück und entwickelt dieses jedes Mal ein Stück weiter. Während die Davos-Bilder [WVZ: 468/1-3, 469-1] von 1982 mit den schneebedeckten Gipfeln und der Sonne, die sich hinter den Wolken und dem Nebel verbirgt und die Eisberg-Bilder [WVZ: 496/1-2] von 1982 als Vertiefung von Richters Interesse für das Erhabene und die deutsche Romantik gelten können, befassen sich die Landschaften von 1983 und 1984 mit bodenständigen Motiven, die Richter auch geografisch näherliegen. Ländliche Szenen und das Rheinland, etwa in Werken wie Scheune [WVZ: 549-1], 1983, Wiese [WVZ: 549-2], 1983, Scheune [WVZ: 550-1], 1984, oder Rheinlandschaft [WVZ: 550-3], 1984. Was für eine enge Verbindung Richter zwischen seinen Fotobilder und der Abstraktion sieht, wird durch die in Richters Werkverzeichnis angeführten Landschaftsbilder von 1984 abgeleiteten Arbeiten [WVZ: 551/1-9] deutlich. Blaue Himmel und Horizontlinien sind Fixpunkte in ansonsten rein abstrakten Spuren auf dem Bildgrund. 1985 malt Richter mehrere Landschaften, darunter Staubach [WVZ: 572-1], Troisdorf [WVZ: 572-2] und Buschdorf [WVZ: 572-5], die gedämpfter wirken und sich als prägend für spätere Landschaftsbilder erweisen sollen. Elger merkt an: „1987 kulminierte Richters Auseinandersetzung mit der Landschaft in einer intensiven Gruppe von Feld- und Wiesenstücken [...].“49

 

Dennoch ist es ein anderer, im folgenden Jahr entstehender Zyklus von Fotobildern, der sich als bedeutendstes Werk dieses Jahrzehnts, vielleicht sogar in Richters gesamtem Œuvre, erweisen wird. Der fünfzehnteilige Zyklus 18. Oktober 1977 [WVZ: 667-674] bezieht sich auf den Selbstmord von Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Gefängnis. Die zwei gelten als die wohl berüchtigtsten Terroristen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, ihr Selbstmord markiert das Ende der Roten Armee Fraktion (RAF). Die RAF ist, wie Storr formuliert, eine Gruppe „radikaler Studenten, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben hatten“50 und die Bundesrepublik über die 1970er-Jahre hinweg mit Anschlägen und Gewalttaten erschüttern. Der Tod von Baader und Ensslin wird damals, ebenso wie der Tod ihrer Komplizen, offiziell als Selbstmord kommuniziert. Die ungewöhnlichen Umstände ihres Todes geben jedoch Anlass zu Spekulationen, sie seien im Staatsauftrag getötet worden. Richters von Unschärfe gezeichnete Grisaillebilder zeigen die Schüsselmomente der Ereignisverkettung, welche in Zusammenhang mit dem Tod der RAF-Mitglieder stehen. Unter anderen die Verhaftung dreier Gruppenmitglieder am Morgen des 1. Juni 1972, die erhängte Gudrun Ensslin in ihrer Zelle am 18. Oktober 1977 oder das Begräbnis dreier RAF-Mitglieder auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof am 27. Oktober 1977.

 

Der Zyklus ist bis heute zweifellos Richters politisch provokativstes Werk. Und obwohl die Arbeiten über zehn Jahre nach den Ereignissen vom 18. Oktober 1977 entstehen, rühren sie nach wie vor an einem Thema, welches seit jeher das Land spaltet. Er trifft einen Nerv der deutschen Öffentlichkeit, die gerade erst beginnt, vielschichtige Debatten über den Status quo der deutschen Nachkriegsgesellschaft und einer „entfremdeten Generation“51 zu führen, „einer Generation, die zumeist nach dem Krieg geboren wurde und mit der Generation der Eltern, die Hitler geduldet, wenn nicht gar unterstützt hatten, im Konflikt liegt“.52 In Richters Werk kristallisiert sich diese Debatte, obwohl er sich stets geweigert hat, selbst mit hineingezogen zu werden. Sein Thema ist vielmehr, wie aus politischen Ideologien Terrorismus wird und wie Staat, Medien und Öffentlichkeit mit diesem Phänomen umgehen.53

 

Als Richter sich 1989 zur RAF äußert, betont er, wie rätselhaft es ihm ist, dass Menschen „Ideen produzieren, die doch fast immer nicht nur gänzlich falsch und unsinnig sind, sondern vor allem gefährlich.“54 Ein weiteres Werk, welches ebenfalls 1988 entsteht, trägt den Namen seiner Tochter und zählt zu den populärsten Richter-Bildern überhaupt. Von der Thematik könnte es sich nicht stärker vom Oktober-Zyklus unterscheiden: Betty [WVZ: 663-5], ein Bildnis von Richters Tochter aus erster Ehe, zeigt Betty als Mädchen (als Richter das Bild malt, ist sie bereits eine junge Frau). Sie sitzt in großer Nähe zur Kamera und trägt eine rot-weiße Strickjacke mit Blumenmuster, was möglicherweise auch ein Morgenmantel sein könnte. Ihr Blick wendet sich vom Betrachter ab ins dunkelgraue Nichts (ein Nichts, bei dem es sich jedoch um eines von Richters abstrakten Grauen Bildern handelt).

 

Es sind eben diese Arbeiten, welche es Richter ermöglichen, den wichtigen Schritt vom Kunstmarkt in die öffentliche Sphäre zu schaffen. Inzwischen zählt Richter längst zu den berühmtesten Malern Deutschlands und darüber hinaus. Seit Mitte der 1980er-Jahre verkaufen sich seine Arbeiten stetig auf dem internationalen Kunstmarkt. Seine erste große Retrospektive, die 1986 in Düsseldorf an der Städtischen Kunsthalle eröffnet wird und anschließend nach Berlin, Bern und Wien wandert, wird ein Erfolg. Auch gibt es Veränderungen im Hinblick auf seine Galerien: Nun wird er maßgeblich von Marian Goodman in New York und Anthony d'Offay in London vertreten. Die 1980er-Jahre sind ein überaus erfolgreiches Jahrzehnt, in dem seine abstrakten Arbeiten ebenso wie seine Fotobilder einen Rang erreichen, dem sein Ruf und Renommee in nichts nachstehen.

 

 

 

48 Storr, Malerei, 2007, S. 70.

49 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 303. Elger kuratiert die erste große Ausstellung, die ausschließlich Richters Landschaftsbildern gewidmet ist und welche 1998 im Sprengel Museum Hannover präsentiert wird.

50 Storr, Malerei, 2007, S. 73.

51 Ebd., S. 73.

52 Ebd., S. 73.

53 Richters Oktober-Zyklus, bereits kontrovers diskutiert, als er 1989 erstmals im Museum Boymans- van-Beuningen in Rotterdam gezeigt wurde, gewinnt zusätzliche Brisanz, als er in New York ausgestellt wird, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center im September 2001. 1995 hatte das MoMA, New York, den gesamten Zyklus erworben. Die Debatte ist nachzulesen in: Robert Storr, September: Ein Historienbild von Gerhard Richter, 2010, S. 37–43.

54 Gespräch mit Jan Thorn-Prikker, 1989, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 236.