Richters intensive Auseinandersetzung mit der Beziehung von Malerei und Fotografie beginnt an der Kunstakademie Düsseldorf und wird zum Fundament seiner eigenen Praxis sowie für den gesamten Diskurs der Nachkriegsmalerei. Mit dem Ende seiner Studienzeit beginnt Richter, möglichst viele Ausstellungsmöglichkeiten und die Vertretung durch eine dynamische, professionelle Galerie zu suchen. Er wird in beiderlei Hinsicht fündig und erweist sich ebenso geschickt auf dem Parkett der Kunstwelt wie bei der Ausbildung einer eigenen künstlerischen Sprache. Auf Empfehlung von Kasper König, Kurator und zukünftiger Leiter des Museums Ludwig in Köln, wird Richter vom Münchner Galeristen Heiner Friedrich zu einer Doppelausstellung mit Peter Klasen eingeladen, die im Sommer 1964 stattfinden soll. Die Zusammenarbeit von Richter und Friedrich erweist sich als fruchtbar und besteht acht weitere Jahre. Zwei Monate später, im September 1964, richtet der Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela Richters erste Ausstellung aus. Im gleichen Monat eröffnet René Block seine Galerie in Berlin mit der Gruppenausstellung Neodada, Pop, Décollage, Kapitalistischer Realismus, in der er unter anderem Richters Werke präsentiert. Auch wenn Richter nicht glücklich darüber ist, dass seine Arbeiten weiterhin mit dem Schlagwort „Kapitalistischer Realismus“ assoziiert werden, so ist er doch mit dem Ausstellungstitel einverstanden. Dies ist unter anderem auf sein gutes Verhältnis zu Block zurückzuführen, dank dessen er auch für nur wenige Wochen später eine Einzelausstellung in Blocks Galerie geplant hat.
Richters fliegender Start in der Galerien- und Kunstwelt setzt sich ungebrochen fort. Noch im selben Monat folgt eine Gruppenausstellung mit Lueg und Polke in der Wuppertaler „Galerie Parnass“. Bereits sechs Monate nach Abschluss der Kunstakademie schaut Richter auf verschiedene Ausstellungen in diversen Galerien zurück. Auch wenn er sein Einkommen in den folgenden Jahren weiterhin mit dem Unterrichten aufbessern muss, so werden seine Arbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits von renommierten Sammlern erworben.
Durch die Arbeit mit Fotografien und befreit von traditionellen Vorstellungen von der Malerei, kann Richter seine Themen nun nach Belieben wählen: „Hirsche, Flugzeuge, Könige, Sekretärinnen. Nichts mehr erfinden zu müssen, alles vergessen, was man unter Malerei versteht, Farbe, Komposition, Räumlichkeit, und was man so alles wusste und dachte. Das war plötzlich nicht mehr Voraussetzung für Kunst.“36
Neben dem Gefühl, frei von Vorgaben arbeiten zu können, interessiert Richter die Dialektik von Objektivität und Subjektivität, die das Malen nach Fotografien mit sich bringt. „Wenn ich ein Foto abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet“, so Richter in seinen persönlichen Notizen von 1964-65. „Das Foto ist das perfekteste Bild; es ändert sich nicht, es ist absolut, also unabhängig, unbedingt, ohne Stil. Es ist mir deshalb in der Weise, wie es berichtet und was es berichtet, Vorbild.“37
Trotz Richters eklektischer Motivwahl werden in den folgenden Jahren Affinitäten für gewisse Themen augenfällig. Militärflugzeuge, Bilder von Familien und Gruppen sind typisch für Richters Werke dieser Zeit, darunter Familie Liechti [WVZ: 117], Versammlung [WVZ: 119] oder Jagdgesellschaft [WVZ: 121]. Auch Pressebilder aus Zeitungen und Zeitschriften sind wiederkehrende Motive und Themen. Storr bemerkt: „In den frühen Jahren [...] ist das Bewusstsein des Todes explizit oder implizit bestimmendes Merkmal zahlreicher Werke Gerhard Richters. Wie Warhol in seinen Disaster-Bildern bedient sich Richter der schaudernden Faszination am Leid und der Ausschlachtung durch die Medien.“38 Dies wird schon in frühen Werken deutlich, wie Tote [WVZ: 9], 1963, ein toter Mann unter einem großen Eisblock, Sargträger [WVZ: 5], 1962 oder Frau mit Schirm [WVZ: 29], 1964, ein Bild, das Jackie Kennedy weinend auf der Straße zeigt; eine von Paparazzi eingefangene Szene.
1965 malt Richter Onkel Rudi [WVZ: 85], einen Bruder seiner Mutter, welcher bis zu seinem Tode im Jahr 1944 als Wehrmachtsoffizier gedient hatte. Im selben Jahr malt Richter ein weiteres Familienmitglied: Tante Marianne [WVZ: 87], die Schwester seiner Mutter, die aufgrund einer psychischen Erkrankung in eine Nervenklinik eingewiesen wird, wo man sie infolge der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik verhungern lässt. Vermutlich ist es kein Zufall, dass Richter im selben Jahr das Bild Herr Heyde [WVZ: 100] malt, ein Psychiater, der aktiv an den Euthanasiemaßnahmen der Nazis beteiligt war und so auch mitverantwortlich für die Ermordung von Richters Tante ist. Die Themen Tod und Mord setzen sich auch im folgenden Jahr fort. Es entstehen Werke wie Helga Matura [WVZ: 124], 1966, das eine ermordete Prostituierte zeigt oder Acht Lernschwestern [WVZ: 130], 1966, die Porträts von acht jungen Frauen aus Chicago, welche im Juli 1966 dem Mörder Richard Speck zum Opfer fallen.
Tatsächlich erweist sich 1966 als Schlüsseljahr für Richters Karriere: Es folgen weitere Ausstellungen in der „Galerie Friedrich“ und bei René Block. Auch im Ausland bieten sich zunehmend Gelegenheiten. Insbesondere hervorzuheben sind Rom mit der „Galleria La Tartaruga“ und Zürich mit der „Galerie Bruno Bischofberger“. In diesem Jahr entsteht eines seiner berühmtesten Gemälde, Ema (Akt auf einer Treppe) [WVZ: 134], 1966. Darüber hinaus findet ein überraschendes Element Eingang in Richters malerisches Repertoire – die geometrische Abstraktion. Als Benjamin Buchloh ihn 1986 fragt, ob dieser radikale Schnitt unter anderem durch das Werk von Blinky Palermo angeregt worden sei, erklärt Richter: „Das hing sicher auch mit Palermo und seinen Interessen und später auch mit der Minimalkunst zusammen; aber als ich 1966 die Farbtafeln gemalt habe, hatte das doch mehr mit Pop Art zu tun. Es waren ja nur abgemalte Farbmusterkarten [...].“39 Diese Auseinandersetzung mit Farben und tonalen Abstufungen setzt sich bis in die 1970er-Jahre fort und findet auch Einfluss in seinen späteren Werken, darunter Richters Entwurf für das Kölner Domfenster [WVZ: 900], 2007. Darüber hinaus erweist sie sich als Wegbereiter für weitere abstrakte Arbeiten, die einen erheblichen Teil seines Œuvres ausmachen werden.
Nach Ema (Akt auf einer Treppe) – in künstlerischer Hinsicht eine Offenbarung für Richter – werden Arbeiten mit weiblichen Sujets, insbesondere Akt- und erotische Darstellungen, 1967 zu einem Schwerpunkt. Im darauffolgenden Jahr hingegen richtet sich Richters Augenmerk auf Luftbilder kleinerer und größerer Städte. Auf seine erste Stadtansicht, Domplatz, Mailand [WVZ: 169], folgen viele weitere Darstellungen größerer Städte wie Madrid oder Paris. Anhand dieser Sujets experimentiert Richter mit einer lockereren, eher gestischen Malweise. Storr stellt Richters Stadtlandschaften in direkte Verbindung mit der Vor- und Nachkriegssituation in Europa: „Diese und ähnliche Bilder [sind] – wie das bereits 1964 entstandene Verwaltungsgebäude [WVZ: 39] – Reflexionen über das neue Gesicht Europas und die Überreste des alten.“40
Auf die Stadtbilder von 1968 folgt bald eine Reihe von Gebirgsbildern, möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Richter sich thematisch für einen gewissen Zeitraum von der menschlichen Figur lösen möchte, um sich stärker mit dem Landschaftssujet zu befassen. Diese Akzentverschiebung fällt mit Richters erhöhtem Interesse an der Abstraktion zusammen. Seine Experimente reichen von zarten Grisailleschattenbildern zu monochromen grauen Bildern, von Fensterbildern über Wellblech-Motive bis hin zu Streifenbildern. Es ist ein Jahr, das exemplarisch verdeutlicht, wie sehr Richter daran gelegen ist, seine Malerei innovativ voranzutreiben, zu experimentieren und neue Formen der Bildsprache für sich zu erschließen.
Nach den Gebirgsbildern malt Richter zwischen 1968 und 1969 an einer Werkreihe, die von dem gemeinsamen Urlaub mit Ema und der ersten Tochter Betty auf der Insel Korsika inspiriert wurde. Hier beginnt sich abzuzeichnen, dass Landschaften und Seestücke ab jetzt eine erhebliche Rolle in seiner Praxis spielen werden. Darüber hinaus tritt Richters Faszination für die Deutsche Romantik immer deutlicher zutage.
Zum Ende der 1960er hin hat sich Richter als erfolgreicher Künstler etabliert. Trotz gewisser Zweifel an seiner bisherigen Praxis und deren weiterer Entwicklung hat er 1969 seine erste Einzelausstellung in einer öffentlichen Institution, dem „Gegenverkehr e.V. – Zentrum für aktuelle Kunst“ in Aachen. Neben weiteren Einzelausstellungen bei René Block sowie in der „Galleria del Naviglio“ in Mailand ist er auch bei Gruppenausstellungen in Deutschland, der Schweiz, in Tokio sowie in New York vertreten, wo er im „Solomon R. Guggenheim Museum“ präsentiert wird – es ist seine erste Ausstellung in den USA. Trotz seines Erfolgs fühlt sich Richter unsicher in Bezug auf die Zukunft. Viele neue Felder haben sich zur Erkundung ergeben und er sucht nach Orientierung. Zu Beginn der 1970er wird Richter mit einer umfangreichen Reihe grauer Bilder beginnen, mit der er die Grenzen malerischer Darstellung in Frage stellt.
36 Gerhard Richter, „Notizen 1964–1965“, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 31. In einem Gespräch mit Rolf-Gunter Dienst 1970, antwortet Richter auf die Frage, wie er seine Sujets in den vergangenen Jahre ausgewählt habe: „Es ist vielleicht eine negative Auswahl insofern, als ich alles zu vermeiden suchte, was bekannte Probleme oder überhaupt Probleme, malerische, soziale, ästhetische, berührte. Ich versuchte, nichts Greifbares zu finden, deshalb gab es so viele banale Sujets, wobei ich mich wiederum bemühte zu vermeiden, dass das Banale mein Problem und mein Zeichen werden würde. Es ist also eine Art Flucht.“ Interview mit Rolf-Gunter Dienst, 1970,
in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 54.
37 Ebd., S. 30.
38 Storr, Malerei, 2007, S. 36.
39 Interview mit Benjamin H. D. Buchloh, 1986, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 170, 173.
40 Storr, Malerei, 2007, S. 40.