Bei Gerhard Richters Atlas handelt es sich um eine Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten und Skizzen, die der Künstler seit Mitte der 1960er-Jahren gesammelt und etwas später auf losen Blättern angeordnet hat.
„Ich habe am Anfang versucht, alles darin unterzubringen, was zwischen Kunst und Müll lag, was mir irgendwie wichtig erschien und zu schade war, um es wegzuwerfen.“1
Der Atlas besteht derzeit aus 802 Tafeln. Die einzelnen Tafeln spiegeln über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten verschiedene Phasen in Richters Leben und Schaffen wider:
Obwohl Gerhard Richter bereits zuvor Fotografien und Abbildungen aus der Presse sammelte, begann die eigentliche Arbeit am Atlas erst Anfang der 1970er-Jahre als er eigene und andere Familienfotos auf Papier anordnete. Daran schließen sich Abbildungen aus Zeitungen und Zeitschriften an, die ihm teilweise als Vorlage für seine Fotobilder der 1960er-Jahre dienten [z. B.: Tafeln: 5–15]. Zu der Werkgruppe der 48 Portraits beispielsweise lassen sich neben einigen Bildvorlagen auch Hängeskizzen und Installationsfotografien dieser Arbeiten auf der Biennale in Venedig 1972 [Atlas-Tafeln: 30–41] finden.
Der Atlas ermöglicht darüber hinaus Einblicke in Richters künstlerische Praxis und die Art und Weise, wie er Bildideen entwickelte. Anhand der Atlas-Tafeln zur Auftragsarbeit des Deutschen Bundestag lässt sich nachvollziehen, wie ihn anfängliche Versuche mit Fotografien aus Konzentrationslagern letztendlich zur Arbeit Schwarz, Rot, Gold, die aus farbig beschichtetem Glas besteht, führten [Tafeln: 635–655].
Den Schwerpunkt des Atlas bilden allerdings Fotografien, die der Künstler selbst aufgenommen hat. Umfangreiche Bildserien von Landschaften, Stillleben oder Familienfotos, gruppierte er sorgfältig auf den Bögen. Einige dieser Fotos wurden später zu Gemälden verarbeitet oder fanden Eingang in Richters Künstlerbücher, wie man am Beispiel des Buches Wald sieht. Auf den Tafeln 697–736 findet sich sogar das vollständige Layout des Künstlerbuches War Cut von 2004.
Das Leben und die Kunst Gerhard Richters sind im Atlas vielschichtig verwoben: banale Bildmotive wie Toilettenpapier [Tafel: 14] stehen neben erschreckenden Bildern des Holocaust [Tafeln: 16–20]; serielle Landschaftsdarstellungen reihen sich an intime Familienfotos; Bildvorlagen mit Farbproben lassen sich ebenso finden wie Fotos von Museumsinstallationen. Aufgrund seiner Komplexität und Vielfältigkeit geht die Bedeutung des Atlas weit über reine Dokumentation hinaus, sodass sich der Atlas als eigenständiges Kunstwerk verstehen lässt.
Text von der Redaktion der Webseite
1 Interview mit Dieter Schwarz 1999 in: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2008, S. 344