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Richter im 21. Jahrhundert: Wirkliches und Greifbares

„Nach diesem Jahrhundert der großen Sprüche und schlimmen Illusionen hoffe ich auf eine Zeit, in der die großen Sprüche nichts mehr gelten, sondern nur das, was man wirklich und greifbar getan hat.'59

 

Um die Jahrtausendwende konzentriert sich Richter mehr und mehr auf seine Abstrakten Bilder – drei Bildnisse seines Sohnes Moritz [CR: 863/1-3] sind bemerkenswerte Ausnahmen. Acht Grau [WVZ: 874/1-8] von 2001 eröffnet im darauffolgenden Jahr eine Reihe von Arbeiten, die das Glas wieder ins Zentrum seines Interesses rücken. Werke wie Glasscheibe [WVZ: 876-1], 4 stehende Scheiben [WVZ: 877-1] oder 7 stehende Scheiben [WVZ: 879-1] zeugen vom dem Wunsch, sich nach den bisherigen Wandarbeiten nun ins Skulpturale vorzuwagen. Themen mit denen sich Richter bereits seit langem auseinandersetzt, wie Transparenz, Opazität und Reflexion rücken in den Vordergrund. Im Jahr 2002 widmet das MoMA in New York Richter eine große Retrospektive mit dem Titel Forty Years of Painting. Die von Robert Storr kuratierte Schau versammelt 190 seiner Arbeiten. Begleitet von einem umfangreichen Katalog ist sie eine der umfassendsten Ausstellungen zu Richters Werk überhaupt. Darüber hinaus wird durch sie Richters Rang als einer der weltweit führenden Künstler bekräftigt. Storr bezeichnet die Ausstellung in seinem Vorwort, im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, als “lange überfällig.'60

 

Richter lässt sich, wie bereits in den 1960ern, weiterhin vom aktuellen Zeitgeschehen inspirieren. 2003 schafft Richter den Bildzyklus Silikat [WVZ: 885/1-4] der angestoßen wurde durch einen Artikel über neue Errungenschaften im Bereich mikroskopischer Optik inder Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. März 2003.61 Die vier großformatigen Bilder gehören zu denjenigen abstrakten Arbeiten Richters, die sich am augenfälligsten mit der Biologie befassen. Unter dem Mikroskop betrachtet rufen sie Assoziationen zu Zellformationen und genetischen Sequenzen hervor.

 

In mehr politische Gefilde bewegt sich Richter mit einem Einzelwerk, das sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 befasst. Ein Bild welches den schlichten Titel September [WVZ: 891-5] trägt und das Richter im Jahr 2005 fertigstellte. In einem 2010 erschienenen Band zu diesem Werk fragt Robert Storr: „Was aber soll ein einziges, kleines, fast abstraktes Gemälde bedeuten, das eines der einschneidensten Ereignisse der jüngsten Geschichte thematisiert?'62 Das Bild zeigt die beiden Türme vor einem blauen Himmel, aber der Moment des Einschlags ist überdeckt durch malerische Gesten, die an Richters Vermalungen erinnern. Durch diesen Akt der Verhüllung sind es die Betrachter, die ihr Wissen über die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse in das Gemälde hineintragen, ähnlich wie bei dem 18. Oktober 1977 Zyklus. Gemäß Bryan Appleyard, Kritiker der Sunday Times, kommt das Bild einem wahrhaft großen Werk zum 11. September so nahe, wie nur möglich. Appleyard’s merkt an: „Es erobert sich diesen Tag zurück, belässt ihn genauso, wie er war, exakt in dem Augenblick, in dem es passierte.'63

 

Im darauffolgenden Jahr, 2006, entsteht mit Cage [WVZ: 897/1-6] einer von Richters bedeutendsten abstrakten Bildzyklen. Die sechs, großformatigen Leinwände, welche von Nicholas Serota als „gebieterisch'64 bezeichnet wird, sind dem amerikanischen Komponisten John Cage gewidmet, den Richter zwar nie persönlich kennengelernt hat, dessen Werk jedoch eine innere Verwandtschaft mit seinem teilt. In einem Interview mit Jan Thorn-Prikker 2004 erwähnt der Künstler: „So ähnlich hat es Cage gesagt: Ich habe nichts zu sagen und das sage ich. Das war mir immer ein wunderbarer Satz. Die beste Möglichkeit, die wir haben, um weitermachen zu können.'65 Robert Storr schließt seine Publikation Cage: Sechs Bilder von Gerhard Richter von 2009 ab, indem er Bezug auf das Zitat des Komponisten nimmt: „Im eigenen Stil und aus eigenen Beweggründen sind die Bilder des Cage-Zyklus Richters schöne Art, nichts zu sagen und damit einmal mehr seine kompromisslose Unabhängigkeit zu erklären.'66 Seit ihrer Präsentation am Museum Ludwig, Köln (2008), sind die Cage-Bilder in der Tate Modern, London, zu sehen.

 

Anfang 2002 legte mir die Dombaumeisterin nahe, Entwürfe für die Glasgestaltung des Südfensters zu machen. Vorgabe war die Darstellung von 6 zeitgemäßen Märtyrern. Ich war natürlich sehr beeindruckt von diesem ehrenvollen Auftrag, musste aber sehr bald feststellen, dass ich dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen bin. Nach einigen vergeblichen Versuchen, mich dem Thema zu nähern, und im Begriff die Sache definitiv aufzugeben, geriet mir eine große Abbildung meines 4096-Farben-Bildes auf den Tisch. Ich legte die Schablone des Maßwerkes darüber und sah, dass es nur so gehen könnte.67

 

Etliche Monate später beginnt Richter an einem Modell mit Mustern und verschiedenen Gestaltungskonzepten zu arbeiten. Letztendlich entscheidet er sich für einen Entwurf aus 11 000 mundgeblasenen quadratischen Glassegmenten zu je 94 x 94 mm, die zur Hälfte mithilfe eines Computerprogramms nach dem Zufallsprinzip festgelegt werden. Doch das Kölner Domfenster ist nicht nur eine Weiterentwicklung seiner Farbtafeln und Farbarbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre, auch sein Glasfenster, 625 Farben [WVZ: 703] von 1989 ist als Einfluss erkennbar. Das vollendete Domfenster [WVZ: 900] ist ausführlich in einem 2007 veröffentlichten Film von Corinna Belz dokumentiert.68

 

2008 beginnt Richter seine Arbeit an Sindbad [WVZ: 905], einem bedeutenden abstrakten Werken in leuchtenden Farben. Sindbad, eine Arbeit aus 100 kleinformatigen Glasbildern mit rückseitiger Emaillierung ist Richters erster Zyklus mit Bezug auf die Geschichten von tausendundeiner Nacht, 2010 folgt der zweite mit dem Titel Aladin [WVZ: 913, 915]. Dass der Künstler zu dieser Zeit viel über den Mittleren Osten nachdenkt, wird auch anhand der verwandten Bildserien Bagdad [WVZ: 914] 2010, und Abdallah [WVZ: 917], 2010, deutlich. Sindbad greift teilweise jene hellere Palette auf, mit der sich Richter in den abstrakten Arbeiten der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre auseinandergesetzt hat, und so ist der Zyklus eine facettenreiche, fröhliche Erkundung von Farbe und Abstraktion.

 

Einer der neuesten Wege, die Richter im Zuge seiner Erforschung von Abstraktion und Farbe eingeschlagen hat, ist seine Verwendung von Streifen. Strip [WVZ: 920], 2011, ein zwischen Aluminium und Plexiglas kaschierter Digitaldruck, zeigt Dutzende horizontaler Streifen unterschiedlicher Stärke und erstreckt sich über eine Gesamtlänge von drei Metern.

 

Trotz seines 80. Geburtstag im Jahr 2012 hat sich die Produktivität und Innovativität Richters Schaffens nicht gemindert. Richter wird als einer der einflussreichsten lebenden Künstler unserer Zeit gesehen und partizipiert aktiv am Dialog in der Kunstwelt, wo er Themen wie Zukunft und Zweck der Kunst diskutiert. Aus Anlass seines Geburtstags eröffnet im Oktober 2011 die große Retrospektive „Gerhard Richter: Panorama” in der Tate Modern in London, die außerdem in der Neuen Nationalgalerie Berlin (2012) und schließlich im Centre Pompidou in Paris zu sehen ist.

 

Biografie erstellt von Matt Price für www.gerhard-richter.com (2010–11). Assistenz: Carina Krause. Ohne die Forschungsarbeit und Unterstützung von Dietmar Elger hätte dieser Text nicht geschrieben werden können.

 

Übersetzung aus dem Englischen von Kristina Brigitta Köper, Berlin.

 

59 Interview mit Stefan Koldehoff, 1999, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 365.

60 Storr, 2007, Malerei, S. 9.

61 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 382.

62 Storr, September. Ein Historienbild von Gerhard Richter, 2010, S. 43.

63 Bryan Appleyard, The Sunday Times, Culture, 28.08.11, S.11.

64 Nicholas Serota im Vorwort zu Storr, Cage: Six Paintings by Gerhard Richter, Tate Publishing, 2009, S. 6.

65 Interview with Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, p.478.

66 Storr, Cage: Sechs Bilder von Gerhard Richter, S. 54.