Gerhard Richter wird am 9. Februar 1932, als erstes Kind des Ehepaars Horst und Hildegard Richter, in Dresden geboren. Seine Schwester Gisela folgt vier Jahre später. Horst Richter ist Gymnasiallehrer; seine Mutter Hildegard Buchhändlerin und, wie ihr Vater, eine talentierte Klavierspielerin. Ihre Begeisterung für die Literatur gibt sie an den jungen Gerhard weiter. In einem Interview mit Robert Storr schildert Richter die frühen Familienjahre als „einfach, anständig, geordnet - Mutter spielte Klavier und der Vater verdiente das Geld.“1
1935 wird Horst Richter eine Lehrstelle in einer Schule in Reichenau, damals Sachsen, heute Bogatynia in Polen, angeboten. Nur widerwillig zieht die Familie vom lebhaften Dresden in die Kleinstadt, welche ungleich weniger Anregung bietet, sich jedoch während des Krieges als deutlich sicherer erweist.2 In den späten 1930er Jahren wird Horst von der Wehrmacht eingezogen, wird alsbald von den Alliierten inhaftiert und verbleibt bis zum Kriegsende in amerikanischer Gefangenschaft. Im darauffolgenden Jahr kehrt er zu seiner Familie zurück, die inzwischen von Reichenau in das noch kleinere Waltersdorf, nahe der tschechischen Grenze, gezogen ist.
Die Nachkriegsjahre sind, wie für viele Familien, eine schwierige Zeit für die Richters. Horsts Empfang fällt weniger herzlich aus als erhofft. Erst Jahre später bemerkt Richter, dass viele Heimkehrer dieses Schicksal mit seinem Vater teilten: „Und danach war ich ihm - oder wir, die Familie - so entwöhnt, dass wir gar nichts Richtiges miteinander anfangen konnten. Kein Einzelfall war das.'3 Denn obwohl Horst Richter politisch offenbar nie eine explizite politische Haltung einnimmt, ist es wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der NSDAP – alle Lehrer hatten Parteimitglied zu werden – schwer, eine Anstellung als Lehrer zu finden. Deshalb arbeitet er übergangsweise in einem Webereibetrieb im nahe gelegenen Zittau, bis er eine Tätigkeit in der Verwaltung eines Fernlehrinstituts in Dresden findet.
Für Gerhard waren diese frühen Jahre geprägt von widersprüchlichen Gefühlen zwischen emotionaler Nähe, Distanz, Trübsal und Begeisterung. Obwohl die Familie Dresden früh verlässt, erinnert er sich sowohl an sein Geburtshaus in der Großenhainer Straße als auch an das seiner Großmutter: „Unweit davon war das Stammhaus vom Zirkus Sarrasani, in dem ich als kleiner Junge die Elefantenställe durch die Kellerfenster sehen konnte. Der Nähkasten meiner Urgroßmutter – ein präpariertes Gürteltier. Ein von der Leiter fallender Mann, den nur ich gesehen hätte, wie meine Eltern behaupteten.“4 Gerhards Erinnerungen an Reichenau sind kaum dokumentiert, während die Zeit in Waltersdorf lebendig geblieben ist, nicht zuletzt, da Gerhard bereits über zehn Jahre alt ist, als die Familie umsiedelt. „Wir waren in ein neues Dorf gezogen, und von Anfang an war ich dort der Außenseiter. Ich sprach den Dialekt nicht und so weiter.“5 Gerhard besucht die neue Schule nur sehr ungern, stets von dem Gefühl geplagt, nicht nach Waltersdorf zu gehören, was unter anderem an dem fremden Dialekt lag. Richter gilt als „hochbegabt, [… jedoch …] notorisch schlechter Schüler.“6 Richter verlässt das Gymnasium in Zittau und besucht nun eine Handelsschule, wo er Stenografie, Buchführung und Russisch lernt.
Obwohl die Familie auf dem Land lebt, sind Gerhards spätere Erinnerungen an den Krieg ausgesprochen lebhaft. Wie die meisten Jungen seines Alters muss er 1942 den „Pimpfen“ beitreten, der Nachwuchsorganisation der Hitlerjugend. Glücklicherweise ist er zu jung, um im letzten Kriegsjahr noch in die Wehrmacht eingezogen zu werden. Neben materiellen Einschränkungen und der Abwesenheit des Vaters in den prägenden Jahren seiner Kindheit, bleiben der Familie auch persönliche Verluste nicht erspart: Hildegards Brüder Rudi und Alfred fallen beide an der Front. „Mitnehmend war, wie die Brüder meiner Mutter gefallen waren. Der Erste und dann der Zweite. Wie die Frauen schrien. Das vergesse ich nie.“7 Hildegards Schwester Marianne, die wegen einer psychischen Erkrankung in eine Nervenklinik eingewiesen wurde, verhungert dort infolge der Euthanasieprogramme des Dritten Reichs.
Auch wenn Waltersdorf von den direkten Bombenangriffen, denen Dresden ausgesetzt ist, verschont bleibt, ist der Krieg doch allgegenwärtig. Im Gespräch mit Jan Thorn-Prikker erinnert sich Richter an das Kriegstreiben, an die besiegten deutschen Soldaten, die Flugzeuge, an Waffen und Schützengräben. Mit dem Einmarsch der Russen kamen Plünderungen, Vergewaltigung und manchmal Graupensuppe für die Kinder im riesigen Zeltlager. Gerhard ist vom Militär fasziniert: „Wenn die Soldaten durch das Dorf zogen, ging ich dorthin und wollte auch dazugehören.“8 Robert Storr erzählt er: „Mit zwölf ist man zu klein, um den ganzen ideologischen Hokuspokus zu begreifen.“9 Voll jungenhafter Neugier und Abenteuerlust spielt er mit seinen Freunden in Wald und Schützengräben; sie spielen Schießen mit herumliegenden Gewehren. „Ich war fasziniert, so wie alle Kinder oder alle Jungs.“10 Trotz seines jungen Alters begreift er die Tragweite des Krieges und erinnert sich, wie Dresden im Februar 1945 nahezu vollständig dem Erdboden gleichgemacht wird: „In der Nacht rannten alle auf die Straße in diesem hundert Kilometer entfernten Dorf. Dresden wurde bombardiert, jetzt, in diesem Augenblick!“11
Das Ende des Zweiten Weltkriegs fällt für Richter mit dem Übergang vom Kind zum Jugendlichen zusammen. Das Deutschland, in dem er geboren wurde, wird nach der Potsdamer Konferenz als sowjetische Besatzungszone erklärt, ein vollkommen anderes sein. Dieser Umbruch wird einen bedeutenden Einfluss auf Richters zukünftige Ausbildung und künstlerische Praxis haben.
1 Richter im Interview mit Robert Storr (Assistenz: Catharina Manchanda), 21.–23. April 2001. Zitiert
nach: Robert Storr, Gerhard Richter, Malerei, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York, The
Art Institute of Chicago, Chicago, u.a., Ostfildern-Ruit 2007, S. 17.
2 Elger beschreibt Reichenau als „triste, von Schwerindustrie geprägte Kleinstadt“, in: A Life in Painting, Chicago und London 2009, S. 5.
3 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2007, S. 476.
4 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 476.
5 Interview mit Robert Storr, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 383.
6 Jürgen Harten (Hrsg.), Gerhard Richter: Bilder 1962–1985, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Nationalgalerie Berlin u.a., Köln 1986, S. 9.
7 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 477.
8 Interview mit Anna Tilroe, 1987, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 199.
9 Storr, Malerei, 2007, S. 17.
10 Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Gerhard Richter: Text, 2008, S. 476.
11 Interview mit Robert Storr, 2002. Zitiert in Malerei, 2007, S. 17.