Biographie

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Die 1970er-Jahre: Erforschung der Abstraktion

Anfang der 1970er-Jahre gewinnt Richters Karriere zusehends an Dynamik und sein internationales Renommee wächst. Im Frühjahr 1970 stellt er erstmals in Konrad Fischers Galerie aus. Fischer, der seit der gemeinsamen Zeit an der Akademie zum erfolgreichen Galeristen avanciert ist, konzentriert sich mittlerweile auf neueste Strömungen in der zeitgenössischen Kunst wie den Minimalismus, Konzeptualismus und Formalismus und vertritt unter anderem Künstler wie Carl Andre, Bruce Nauman, Fred Sandback, On Kawara, Richard Long und Sol LeWitt. Die Nähe zu diesen einflussreichen Künstlern bietet Richter in einer Zeit, in der Malerei vielen als überkommenes Medium gilt, einen neuen Kontext. Robert Storr merkt an: „Richter selbst kann mit diesen neuen Werken mehr anfangen als mit den Bildern anderer aufstrebender Maler [...].“41 Die Malerei als Medium genauer zu betrachten und zu hinterfragen, wird zum fundamentalen Bestandteil von Richters eigener Tätigkeit.

 

Eine Ausstellung im Museum Folkwang in Essen im Herbst 1970 gibt Richter die Gelegenheit, einen Teil der Fotografien, Skizzen, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte, die er seit den 1960ern zusammengetragen hat, zu präsentieren. Im Jahr davor hat Richter begonnen, sich der Aufgabe zu stellen, seine Quellen und Materialsammlung systematisch zu organisieren – eine Vorbereitung für seinen Atlas. Elger führt aus: „[es war] zunächst [die] Notwendigkeit einer Sichtung des im Laufe der Jahre angefallenen Bildmaterials [– eine] Möglichkeit, dieses Konvolut präsentabel aufzuarbeiten.“42 Auf Papptafeln präsentiert und nach Themen, die wiederum nach seinen Werkgruppen gegliedert sind, ist der Atlas seither mehrfach als eigenständiges Kunstwerk ausgestellt worden (unter anderem im Rahmen der documenta X, 1997).

 

1971 wendet sich Richter wieder der geometrischen Abstraktion zu, mit der er sich bereits 1966 bei seinen Farbtafeln befasst hat. Doch dieses Mal bringt er ein zusätzliches Zufallselement bei der Farbwahl mit ein, statt sich unmittelbar auf handelsübliche Musterkarten zu beziehen. Nun entstehen Raster mit deutlich mehr Farbfeldern als 1966 (einzige Ausnahme ist das damals entstandene Werk 192 Farben [WVZ: 136], in vielerlei Hinsicht sein Anknüpfungspunkt).

 

Richter malt Rasterbilder mit einer variierenden Anzahl quadratischer Felder, von 4 Farben [WVZ: 353-1] bis hin zu Arbeiten mit 1024 Farben [WVZ: 350-1] oder gar 4096 Quadraten, so etwa bei 4096 Farben [WVZ: 359]. Nach 1974 entstehen erst 2007 wieder Rasterbilder und derweil folgt Richter der Abstraktion in andere Gefilde. Seine Auseinandersetzung mit Grautönen z.B. nimmt eine zusehends wichtigere Rolle in seinem Oeuvre ein. 1974 werden 31 graue Bilder in Mönchengladbach ausgestellt.

 

Wenige Jahre bevor er sich der Abstrakten Malerei zuwendet, wurde Richter dazu eingeladen, Deutschland bei der 36. Venedig-Biennale zu vertreten. Dies, gefolgt von einer Einladung zur documenta 5, festigt seine Rolle im deutschen Kunstestablishment. Für die Biennale fertigt er den Zyklus 48 Portraits [WVZ: 324/1-48] an – einen der bedeutendsten figurativen Werkzyklen dieser Zeit. Die Arbeit umfasst – wie der Titel bereits verrät – 48 Leinwände in Schwarz-Weiß. Dabei handelt es sich um Darstellungen berühmter Persönlichkeiten aus den vergangenen zwei Jahrhunderten der westlichen Geschichte, darunter Wissenschaftler, Komponisten, Philosophen und Schriftsteller. Die Nahaufnahmen der Gesichter vor schlichtem, grauem Hintergrund sind eine Spiegelung männlicher Identität und intellektueller Errungenschaft, die gleichermaßen von Gravitas wie auch von humorvollen Andeutungen durchzogen ist. Die Bedeutung der Porträtierten wird subtil durch Eigenheiten und Eigentümlichkeiten ihrer Physiognomie unterlaufen, die im gesamten Zyklus zwar naturgetreu, aber mit einem gewissen karikaturistischen Zug wiedergegeben sind. Durch den passbildartigen, eng gefassten Bildausschnitt – ein Kunstgriff, der an Richters Portraits von Schmela [WVZ: 37/1-3] erinnert – lässt der Künstler möglicherweise ein ironisch-heroisches Element in die sonst zweifellos ernst gemeinte Würdigung einfließen – vielleicht sogar in Hinblick auf die Geschichte der klassischen Porträtmalerei an sich.43

 

Diese Technik erwuchs möglicherweise aus Richters Interesse für das Informel, welches ihn schon seit Studientagen fasziniert. Anders als die verhaltene Unschärfe seiner Fotobilder zeichnen sich diese Vermalungen durch ein prägnanteres malerisches Impasto aus, die großzügigen, kreisenden Spuren des Pinsels sind deutlich erkennbar. Bei der Genese seiner Vermalungen kommen offenkundig eine ganze Reihe früherer Werkkomplexe zum Tragen, darunter die Stadtbilder und Schlierenbilder von 1968/69, die Sternbilder von 1969 sowie zahlreiche individuelle Werke, bei denen die Grenzen von Gegenständlichkeit und Abstraktion verschwimmen, wie etwa mit Zwei Frauen am Tisch [WVZ: 196-2], 1968, Ohne Titel (grau) [WVZ: 194-6], 1969, Grau [WVZ: 247-13], 1970 oder Ohne Titel (Abend) [WVZ: 293-3], 1971. Am deutlichsten wird Richters Denkprozess vielleicht in seiner Werkreihe Ohne Titel (grün) [CR: 313-319] von 1971, in der er sich, ausgehend von Parkstück [WVZ: 310], 1971, einem figurativen Werk, graduell in die Abstraktion vorantastet. Die Serie ist zugleich Wegbereiter für seine braunen, grauen oder rot-blau-gelben Vermalungen, die 1972 entstehen. Elger merkt an: „Der Farbauftrag in den grauen und rot-blau-gelben Vermalungen ist zwar gestisch, aber weder expressiv noch subjektiv. Stattdessen zieht Richter die Farbe in unendlichen emotionslosen Bahnen über die Leinwand.“44 Für Richter waren die Vermalungen eine weitere Möglichkeit, das subjektiv expressive Element aus seiner Malerei zu verbannen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf den malerischen Gestus zu lenken. Diesen Ansatz verfolgt er auch in einer anderen Werkgruppe – bei Gemälden, die er nach fotografischen Vergrößerungen fertigt. 

 

Storr gliedert diese in Richters Schaffen zu dieser Zeit ein: „Zwischen den Landschaften von 1970/71 und den großformatigen Bildern, die 1973 und 1979 entstehen, malt Richter Bilder nach fotografischen Vergrößerungen von Pinselstrichen oder bunten Farbschlieren.“45 Durch die Vergrößerung einzelner Pinselstriche zoomt Richter in den Akt des Malens und schafft Gemälde, die trotz ihres figurativen Inhalts abstrakt erscheinen.

 

Richters Farbtafeln, seine grauen Bilder, seine Vermalungen und Bilder nach fotografischen Vergrößerungen stehen zum einen für seine Entschlossenheit, die Abstraktion konsequent zu Ende zu denken, zum anderen für Strategien, die er wählt, um die Mechanismen der figurativen Malerei zu entlarven. Wie seine amerikanischen Zeitgenossen, darunter Ellsworth Kelly, Willem de Kooning, Barnett Newman, Ad Reinhardt, Mark Rothko und Cy Twombly trägt Richter maßgeblich dazu bei, die bildhaften Qualitäten und das Potenzial der Abstraktion und des Minimalismus zu vermitteln. Storr formuliert knapp: „Von 1968 bis Ende 1976 befasst er sich mit dem Monochrom, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wird ihm allerdings klar, dass er sich aus der grauen Ecke, in die ihn der Minimalismus und seine Aversion gegen alles Expressive geführt haben, nicht herausmalen kann.“46

 

In privater Hinsicht sind die 1970er-Jahre nicht die glücklichsten für Richter. Seine Ehe mit Ema wird zunehmend schwieriger bevor sie schließlich endgültig zerbricht. Dies spiegelt sich auch in seiner Arbeit wider, nicht nur in den düsteren Monochromen oder den Grisaillevermalungen, sondern auch in den figurativen Arbeiten wie den Seestücken [WVZ: 375-378]. Ein Bildzyklus von 1975 zeigt eisig-arktische Gewässer und basiert auf Fotografien, die Richter auf einer Grönland-Reise aufnimmt, angeregt durch Caspar David Friedrichs „Gescheiterte Hoffnung“ [auch bekannt als „Das Eismeer“].

 

1976 erreicht Richter einen Punkt, an dem es offenbar nicht mehr weitergeht, welchen Elger als die künstlerische „Sackgasse“47 beschreibt; Richter wird zusätzlich zu seinen privaten Schwierigkeiten durch einen weiteren Schicksalsschlag belastet, den vorzeitigen Tod seines Freundes Blinky Palermo, der während eines Urlaubs auf der Insel Kurumba auf den Malediven unerwartet ums Leben kommt. 1977 erschließen sich Richter zwei Wege aus der Stagnation: Einer ist seine Hinwendung zu skulpturalen Arbeiten, einschließlich der Glasplatten, die er einseitig grau bemalt (Glasscheibe [WVZ: 415/1-2] und Doppelglasscheibe [WVZ: 416], 1977). Die entstehende Reflexion und ihre Wirkung ist etwas, was Richter in seinen Werken der 1990er und 2000er weiter erkunden wird.

 

Neben dem neuen Medium findet auch Farbe wieder Einzug in sein Schaffen. In seinen Arbeiten, die er schlicht Abstrakte Bilder nennt, verschwinden Grau und Braun und werden durch kühne und kräftige Farben ersetzt, in einem Überschwang von Mustern, Texturen, Oberflächen und Techniken. Diese Arbeiten geben Richter Anlass zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Optik und Wahrnehmung, Bildebenen, Tiefe, Raum, Form, Farbe und Licht. Hier werden Assoziationen unterschiedlichster Dimensionen geweckt, von mikroskopischen Aufnahmen bis hin zu geologischen und kosmologischen Phänomenen. Diese bedeutende Phase seines Schaffens setzt sich bis weit in die frühen 1980er-Jahre fort und bereitet den Weg für spätere Zyklen wie Sindbad [WVZ: 905/1-100], 2008 oder Aladin [WVZ: 913 und 915], 2010.

 

Im Frühjahr 1979 trennen sich Richter und Ema schließlich offiziell: Das Ende eines schwierigen Jahrzehnts markiert zugleich den Beginn eines neuen Kapitels. Ein Jahrzehnt, das grau begonnen hat, hätte kein farbigeres Ende finden können. Das Ringen um die Erforschung der Abstraktion – ihr Potenzial und ihre schlüssige Umsetzung – beginnt sich auszuzahlen.

 

41 Storr, Malerei, 2007, S. 45.

42 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 215. 1996 wurde der Atlas von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München erworben.

43 Robert Storr führt aus: „Die Tatsache, dass es sich ausnahmslos um tote weiße Männer handelt, hat zu Kritik von unterschiedlichster Seite geführt. Seine wenig befriedigende Begründung lautet, in den sechziger Jahren sei das femininistische beziehungsweise multikulturelle Bewusstsein noch nicht so entwickelt gewesen, und die Aufnahme von Frauen – beispielsweise Virginia Woolf oder Marie Curie – hätte die formale Einheit dieser Herrenriege in dunklen Anzügen zerstört. Storr, Malerei, 2007, S. 61f.

44 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 234. 45 Storr, Malerei, 2007, S. 52.

46 Storr, Malerei, 2007, S. 67.

47 Elger, Gerhard Richter, Maler, 2018, S. 255.